Interview: Absätze prognostizieren, wenn die Nachfrage verrücktspielt
Apr 6, 2020 • 5 minDieser Artikel wurde zuerst von „Winsight Grocery Business“ veröffentlicht.
Der hohe Anstieg der Nachfrage durch COVID-19 hat die Supply-Chains vieler Einzelhändler durcheinandergebracht – diese basieren durch fortschrittliche Technologie auf intelligenten Dispositionssystemen, die Filialen nur mit dem Bestand versorgen, den sie zur jeweiligen Zeit benötigen. Hamsterkäufe konnten mit dieser Strategie nicht abgedeckt werden.
Im Interview mit Michael Falck, dem Mitbegründer von RELEX Solutions, diskutiert „Winsight Grocery Business“, wie oben genannte Technologie dem Handel nun helfen kann, mit außergewöhnlichen Nachfrageschwankungen umzugehen. RELEX ist ein finnischstämmiger Anbieter von KI-gestützter Supply-Chain-Software. Mit dieser prognostizieren unter anderem Ahold Delhaize, Coop und Rossmann ihre Bestände für Filialen und Lager. Die folgenden Auszüge sind Teil eines Gesprächs, das Jon Springer am 17.03.2020 mit Michael Falck als Telefoninterview führte.
J. Springer: Wie sahen die letzten zwei Wochen für ein Unternehmen wie Ihres aus?
M. Falck: Es ging sehr hektisch zu. Natürlich ist es einfacher, das im Nachhinein zu sagen, aber basierend auf den verfügbaren Daten und Informationen, hätten ich und einige andere Leute die Lage schon spätestens Mitte Februar erkennen sollen. Aber ich habe es nicht kommen sehen, ebenso wenig wie viele andere.
Die meisten unserer Kunden aus dem Lebensmitteleinzelhandel haben einen großen Anstieg der Nachfrage erlebt: In bestimmten Produktkategorien besonders stark, aber darüber hinaus beinahe über das gesamte Sortiment hinweg. SB-Salatbars und Frischetheken werden jedoch geschlossen. So erleben einige Artikel ein Absatzhoch, während andere komplett aus dem Sortiment genommen werden.
Für Fachhändler sind die Langzeiteffekte sogar größer. Im Februar redete noch jeder über die Herausforderungen des Nachschubs: Besonders Unternehmen mit etwas komplexeren Supply-Chains, deren Lieferungen aus China kommen und somit lange Beschaffungszeiten haben, waren besorgt, nicht genug Produkte zu erhalten. Jetzt besteht die Sorge vor allem darin, dass gerade keiner ihre Produkte kaufen will.
Unglaublich. Wenn sich ein außergewöhnliches Event wie die Coronakrise ereignet und Konsumenten Artikel wie Milchpulver, Brot und Handdesinfektionsmittel hamstern, wie stellt man sich darauf ein?
Kurzzeitig ist jeder überwältigt. Teilweise liegt das an Unternehmen wie uns – ich scherze. Aber alle Supply-Chains wurden bereits auf irgendeine Weise zurechtgestutzt: Niemand lagert mehr Tonnen an Beständen. Wer das getan hätte, wäre bereits vor Jahren Bankrott gegangen. Der kurzfristige Effekt ist also, dass jeder erst einmal überfordert ist.
Das Gute am Lebensmittelhandel ist aber, dass viele der Artikel recht regional sind und regional hergestellt werden. Und selbst wenn nicht, wird der Warenfluss weiterhin funktionieren. Daher gibt es kurzzeitige Out-of-Stocks, mit denen die meisten Unternehmen gut umgehen können. Um zurück zu KI und Prognostizierung zu kommen: Die Coronapandemie ist mit keinem Event in jüngster Geschichte vergleichbar. Wenn man auf ein ähnliches Ereignis zurückblicken wollte, müsste man auf das Jahr 1918 schauen – aber das ergibt keinen Sinn. Es wäre nicht übertragbar.
Wir haben in den letzten Jahren extreme Wetterverhältnisse erlebt, weshalb wir lokale Wetterdaten in unser Prognosemodell inkludiert haben. Also können wir unseren Kunden auch jetzt sehr schnell mit Analysen beiseite stehen und feststellen, welche Produkte und Kategorien sich besonders schnell drehen. Für die meisten Profis sollte dies relativ offensichtlich sein, auch ohne Statistiken.
Ich will Algorithmen und KI keinesfalls abwerten. Aber in Situationen wie dieser kommt es nicht allein auf das Vorhandensein von genügend Daten an, um den Prozess ergänzen zu können. Das wichtigste ist, dass man durch gute Technologie und Lösungen jede Disruption in der Nachfrage oder Supply-Chain besser managen kann, insbesondere Störungen einer Größenordnung wie dieser.
„Das wichtigste ist, dass man durch gute Technologie und Lösungen jede Disruption in der Nachfrage oder Supply-Chain besser managen kann, insbesondere Störungen einer Größenordnung wie dieser.“
Sagen Sie also voraus, dass Händler, die moderne Software zur Disposition und Absatzprognostizierung nutzen, besser für die außergewöhnlichen Änderungen der Bestandsvolumen gerüstet sind?
Ja. Jeder Händler muss sich damit irgendwie auseinandersetzen, aber derjenige, der moderne Technologie einsetzt, kann das mit weniger manuellem Aufwand bewerkstelligen. Wir arbeiten mit einem großen internationalen Einzelhändler zusammen, mit dem wir uns gerade mitten im Rollout befinden. Der Händler arbeitet in manchen Ländern bereits mit RELEX, in anderen ist dies geplant. Die Frage, die er uns derzeit stellt, lautet tatsächlich: „Können wir die Implementierung beschleunigen?“. In den Ländern, die bisher noch nicht ausgerollt wurden, ist einfach viel mehr manuelle Arbeit erforderlich.
Wir haben bereits angesprochen, dass Unternehmen durch das bessere Managen von Absatzprognosen viele Vorteile erreichen. Können Sie dazu mehr erzählen?
Die Supply-Chain-Perspektive – und deshalb mag ich sie so gern – macht es einfach, KPIs zu beziffern und sichtbar zu machen: Verfügbarkeit, Bestand und Verderb, ebenso wie die Arbeitszeit für die Regalbestückung und den Güterumschlag.
Was wir durch bessere Absatzprognosen und Bestandsprojektionen erreichen möchten, ist die richtige Balance zwischen hoher Verfügbarkeit, Frische und Verderbsreduktion herzustellen. Gleichzeitig wollen wir den Fluss zum Regal optimieren, sodass wir die Berührungspunkte der Waren in der gesamten Supply-Chain minimieren. Die finanziellen Auswirkungen sind wirklich beachtlich.
Lernen Händler so Dinge, die sie nicht wüssten, wenn sie einen anderen Weg gegangen wären?
Einige. Im Normalzustand wird sogar das Handling von Frischeprodukten wesentlich einfacher. Aber „normal“ ist nicht typisch für den Einzelhandel. Man hat Wettereffekte oder Kampagnen, bei denen der beworbene Artikel einen anderen kannibalisieren kann. Bei Kategorien wie Fleisch kommen mehrere Faktoren zusammen: Wenn es eine Frischetheke gibt, wo das Fleisch auch geschnitten wird, muss man sich bereits die Rezepte dazu überlegen, da diese das Schneiden des Fleisches beeinflussen. Alles hängt also voneinander ab. Wenn Sie einen Artikel bewerben, wird ein anderer vielleicht wesentlich weniger verkauft. Basierend darauf müssen Sie wiederum entscheiden, wieviel Frischfleisch Sie jeweils grobzerlegt oder als feinzerlegte Teilstücke für die Filialen bestellen.
Welchen anderen Herausforderungen stehen Einzelhändler momentan generell gegenüber, die Ihre Software bewältigen kann?
Der Optimierung des Workforce-Managements. Die Regalbestückung macht 80 Prozent der Filialarbeitszeit aus. Wenn Sie also über akkurate Prognosen und eine gute Einsicht in Ihre Bestandsprojektionen verfügen, können Sie die Mitarbeiterschichten optimieren. Der Effekt auf Ihren Saldo ist dabei sogar noch größer.
Das gleiche gilt für Fläche: Stellen Sie sicher, dass Sie Ihren Produkten mit Prognosen auf Tages- oder sogar Intraday-Ebene genug Fläche zuweisen, dass Ihre Planogramme und Fläche mit der Lieferhäufigkeit der Kategorien in die Filialen übereinstimmen und dass Lieferungen direkt in die Regale verräumt werden können.
Sie reden aus Helsinki mit mir. Gelten dort die gleichen Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren wie hier in den USA?
Es fing hier ein paar Tage früher an. Leider glaube ich, dass dies auch länger nötig sein wird, als die Leute im Moment annehmen.
Wie ist die Situation im finnischen Lebensmitteleinzelhandel?
Eigentlich ziemlich gut. Es traten die gleichen Effekte wie in den USA ein, aber Einzelhändler kamen schnell damit zurecht. Toilettenpapier wird hier im Land hergestellt – es wäre nicht effizient, es in großen Mengen einzuführen. Die gute Nachricht für Lebensmittelhändler ist: Auch wenn es Herausforderungen gibt, werden die meisten, wenn nicht sogar alle, eine Umsatzsteigerung erleben und sanft durch die Krise kommen – selbst den pessimistischen Szenarien zufolge.
Ich vermute, es gibt große Volumensteigerungen, aber bei wechselnden Sortimenten.
Das Sortiment ändert sich definitiv. Es wird weniger Frischetheken und Salatbars geben, stattdessen werden die entsprechenden Produkte eher verpackt erhältlich sein. Onlinelieferungen sind ausgebucht. Das kann einer der langfristigen Effekte sein: Zwar hat der Onlinehandel schon die ganze Zeit über zugenommen – aber diese Entwicklung wird nun um einiges beschleunigt. Menschen werden damit vertraut, sogar ältere Leute gewöhnen sich daran, online zu bestellen und ihre Einkäufe geliefert zu bekommen.
Ist das eine gute Sache? Eine der Ängste hier ist, dass sich Leute ans Onlineshopping gewöhnen. Jeder dieser Einkäufe verursacht Kosten, die ein Besuch in den stationären Filialen nicht beinhaltet. Es gibt also Sorgen, ob Filialen die Auswirkungen gestiegener Onlinekäufe auf die Profitabilität verkraften können.
Der Wandel dahin findet bereits statt und wird sich nur beschleunigen. Einzelhändler müssten sich damit früher oder später sowieso auseinandersetzen.