Studie: Wie Supply-Chains im LEH der ersten COVID-19-Welle trotzten
Aug 13, 2020 • 5 minObwohl viele Länder die Einschränkungen des öffentlichen Lebens wieder lockern, ist das Coronavirus nicht verschwunden. Während dieser Text entsteht, werden global pro Tag dreimal mehr COVID-19-Diagnosen gestellt als Anfang April. Niemand weiß, wie sich die Situation entwickeln wird. Somit ist es Zeit, die wichtigsten von Supply-Chain-Experten gewonnenen Erkenntnisse während der ersten Welle der Coronakrise zu untersuchen.
Gemeinsam mit anderen Forschern der Aalto Universität in Helsinki habe ich eine Arbeit mit dem Titel „Agile Planning: Avoiding Disaster in the Grocery Supply Chain During the COVID-19 Crisis“ veröffentlicht. Im Rahmen einer Echtzeitstudie befragten wir Supply-Chain-Verantwortliche aus verschiedenen Stufen der gesamten Lebensmittellieferkette in Finnland – vom Hersteller über den Logistikdienstleister bis zum Einzelhändler.
Zu Beginn der Krise, als die Unsicherheit groß war und die Aussichten trübe, sorgten sich viele darum, ob die Lieferketten des Lebensmitteleinzelhandels der gleichzeitigen Belastungsprobe von zwei Seiten – der Nachfrage und des Angebots – standhalten würden. Eine Situation von derartigem Ausmaß war bisher ungekannt. Überraschenderweise schnitten die Supply-Chains im finnischen LEH im Großen und Ganzen gut ab. Es kam zwar zu Verknappungen und bei manchen Artikeln zu leeren Regalen, aber die finnischen Einzelhändler waren in der Lage, Shopper mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen, auch in der akuten Phase der Krise.
Unser Ziel war es, zu untersuchen, warum die Supply-Chains nicht kollabierten, wie manche befürchteten. Wie wurde sichergestellt, dass die simultanen Erschütterungen sich nicht ausbreiteten und zu Lebensmittelknappheit und Panik führten? Wir identifizierten die nötige Kombination aus Verfahren und Fähigkeiten – inklusive rascher Reaktionen und agiler Planung – um sich schnell von der ersten Schockwelle für die Supply-Chain zu erholen, eine hohe Performance aufrechtzuerhalten und die Gesundheit der Mitarbeiter zu schützen.
Unsere Studie identifizierte zwei einheitliche Supply-Chain-Ziele für Unternehmen während der ersten akuten Coronawelle:
- Die Verfügbarkeit gewährleisten, um die Nachfrage zu stabilisieren und so die Gefahr anhaltender Panik- und Hamsterkäufe einzudämmen.
- Einen Peitscheneffekt verhindern, bei dem die initiale, kurzfristige Nachfragespitze zu erhöhten Bestellungen der Händler bei den Herstellern führt und dadurch eine stärkere Produktion und Bestellungen bei Lieferanten auslöst – wodurch es letztendlich zur Überflutung der Supply-Chain mit zu viel Ware kommt.
Beide Ziele erwiesen sich als ausschlaggebend für Supply-Chain-Prozesse. Einzelhändler rund um den Globus erwarten die nächste Pandemiewelle und weitere Ereignisse dieser Art in Zukunft. Deshalb teilen wir fünf Vorschläge, die wir erarbeitet haben: Sie zeigen, wie Supply-Chain-Verantwortliche die oben genannten Ziele erreichen und so den Kollaps ihrer Lieferkette durch künftige Erschütterungen verhindern.
Vorschlag 1: Mobilisieren und verlagern Sie vorhandene Ressourcen schnell, um Verfügbarkeit zu gewährleisten und die Wahrscheinlichkeit von Hamsterkäufen zu verringern.
Das ist besonders wichtig, wenn sich die Nachfrage von einem Kanal auf einen anderen verlagert, wie etwa von Frischdiensten hin zum Onlinehandel. Ein Teilnehmer der Studie beschrieb, wie Aufgaben verlagert werden mussten: Von der Kommissionierung für die Frischdienste, deren Nachfrage aufgrund der angeordneten Restaurantschließungen zurückging, hin zum Onlinehandel für Individualkunden, deren Bedarf mit der Notwendigkeit, zu Hause zu bleiben, in die Höhe schoss. Deshalb musste auch die Infrastruktur geändert werden – statt Paletten waren eher individuelle Packungen für Verbraucher gefragt. Die Änderungen der Ressourcen wirkten sich auf die Mitarbeiter in der IT und der Kommissionierung und auf den Transport und die Logistik aus. Auch Hersteller waren betroffen, da Packungsgrößen, die für die Gastronomie vorgesehen waren, in kleinere Packungen für Verbraucher umgewandelt werden mussten.
Vorschlag 2: Führen Sie Maßnahmen ein, um die Verbreitung der Pandemie in den Herstellungsbetrieben zu bekämpfen.
Hersteller haben gegebenenfalls nur ein einziges oder wenige Fließbänder, die für ein Produkt oder sogar eine Produktfamilie vorgesehen sind. Kommt es zu einem größeren Infektionsgeschehen in einem Betrieb, kann es passieren, dass die gesamte Produktfamilie für lange Zeit nicht lieferbar ist – egal, wie hoch die Nachfrage ist. Die in dieser Studie untersuchten Hersteller stellten Gesichtsmasken zur Verfügung und etablierten Maßnahmen, die die bereits hohen Hygienestandards im Frischwarensektor überstiegen. Einige Betriebe teilten Mitarbeiter in kleinere, räumlich voneinander getrennte Gruppen auf, um die Ausbreitung des Virus im Betrieb zu verhindern, sollte sich ein Mitarbeiter anstecken.
Vorschlag 3: Teilen Sie Informationen transparent innerhalb der gesamten Lieferkette, um die Verfügbarkeit zu gewährleisten und einen Peitscheneffekt zu verhindern.
Die plötzlichen Veränderungen der Nachfrage in Kombination mit Nachschubunsicherheit machten Supply-Chain-Transparenz wichtiger denn je. Die Situation erforderte insbesondere eine effektive Kommunikation entlang der gesamten Supply-Chain zwischen Einzelhändlern, Großhändlern und den Lieferanten essenzieller Produkte, die den höchsten Nachfrageanstieg verzeichneten. Der Informationsaustausch, den wir in dieser Zeit in den Lieferketten beobachteten – zum Beispiel tägliche Telefongespräche über die Produktionskapazitäten – war offener und fand häufiger statt als es Branchenstandard ist. Diese Transparenz half den Filialen, die Verfügbarkeit für Verbraucher auf hohem Niveau zu halten und dämmte mittel- bis langfristig das Horten von Produkten ein: Das verhinderte den Peitscheneffekt, der sich auf die gesamte Lieferkette ausgewirkt hätte.
Vorschlag 4: Ermöglichen Sie ein agiles Anpassen der Richtlinien und Prozesse von Absatz- und Vertriebsplanung.
Eine Erschütterung dieser Größenordnung macht alte Prognosen überflüssig, da es keinen Präzedenzfall gibt, der ein automatisches statistisches Prognostizieren auf effektive Weise erlauben würde. Die entscheidenden Maßnahmen, um dieser Herausforderung zu begegnen, waren: 1) verkürzte Planungshorizonte, 2) Konzentration auf menschliche Expertise und 3) großflächiges, individuelles Anpassen von ausgehenden Bestellungen in Bestandsmanagementsystemen. Diese Strategie antizipierte mein Kollege Janne Kahila in seinem bereits früh im Verlauf der Pandemie veröffentlichten, detaillierteren Blogpost.
In dieser Studie fanden wir heraus, dass sowohl Hersteller als auch Einzelhändler die Produkte priorisierten, die am stärksten von der steigenden Nachfrage betroffen waren, indem sie die Planungs- und Priorisierungsregeln in ihren Planungssystemen anpassten. Die in der Studie untersuchten Teilnehmer verkürzten ihre Planungsrhythmen von Wochen auf Tage, um ein schnelles Anpassen von Entscheidungen aufgrund der aktuellen Informationen zu ermöglichen. Szenarioplanung wurde auf breiter Basis eingesetzt, um auf alternative Absatzentwicklungen vorbereitet zu sein. In manchen Fällen wurde der Entkopplungspunkt (die Push-Pull-Grenze) für stark nachgefragte Artikel vom Einzelhändler Richtung Hersteller verlagert. Auf dem Höhepunkt der Supply-Chain-Krise allozierten Hersteller Ware an Händler, ohne deren gewünschte Bestellmengen zu berücksichtigen, um die vorhandene Ware effektiver an die Filialen zu verteilen und bei Bedarf die Bestellmengen zu begrenzen. Diese ergänzenden Anpassungen halfen, die Verfügbarkeit essenzieller Produkte während der gesamten akuten Phase der Krise zu halten.
Vorschlag 5: Identifizieren und bewältigen Sie Engpässe in der Supply-Chain proaktiv.
Als die Produktionskapazitäten der Hersteller ausgereizt waren, entschieden diese sich, nicht-essenzielle Produkte einzustellen und sich stattdessen auf stark nachgefragte Produkte zu konzentrieren. Auch Händler mussten mit Engpässen rechnen und sahen sich mit Herausforderungen konfrontiert, die nicht immer die waren, die sie erwartet hatten. Ein E-Commerce-Händler hatte beispielsweise seine Kommissionierung als potenzielles Nadelöhr ausgemacht, um festzustellen, dass der Transport die kritischere Herausforderung war. Letztendlich waren die erfolgreichsten Unternehmen in der Lage, ihre neuen Engpässe schnell und exakt zu identifizieren und ihre Bemühungen auf deren Bewältigung zu konzentrieren.
Zusammenfassend fand unsere Studie folgendes heraus: Unternehmen und Supply-Chains benötigen simultane Maßnahmen in der Ressourcenplanung, dem Produktionsmanagement, der Kommunikation, der Absatz- und Vertriebsplanung und der Supply-Chain-Steuerung – nur so können sie schnell und effektiv auf eine Erschütterung dieses Ausmaßes reagieren. Hätten die von uns untersuchten Unternehmen diese Maßnahmen nicht ergriffen, wären Panikkäufe eskaliert und die Supply-Chain-Performance wäre durch den entstandenen Peitscheneffekt stark beeinträchtigt worden. Agile Planung und das Umschiffen von Engpässen sind die wichtigsten Maßnahmen, die Unternehmen gegen das potenzielle Aufbranden einer weiteren COVID-19-Welle (oder ähnliche Ereignisse in einer hoffentlich noch weit entfernten Zukunft) resilient machen.
Lauri Loikkanen arbeitet bereits viele Jahre für RELEX und ist derzeit freigestellt, um seine Promotion am Industrial Engineering and Management Institut der Aalto Universität in Helsinki abzuschließen.