Was Living Retail vorantreibt: Das Kräfteverhältnis verlagert sich

Jan 16, 2020 4 min

Dies ist der zweite Teil unserer Beitragsserie zu „Living Retail“, dem Phänomen des dynamischen Einzelhandels, der ständig in Bewegung und teils gegensätzlichen Einflüssen unterworfen ist. Im ersten Teil haben wir dargelegt, warum Einzelhändler sich an die Idee gewöhnen sollten, dass Wandel nunmehr die einzige Konstante darstellt. Im zweiten Teil betrachten wir, wie Händler sich effektiv auf einen der größten Betreiber dieses Wandels einstellen – die Machtverschiebung in Richtung Verbraucher.

Der Begriff „Disruption“, der im Englischen mehr oder weniger einschneidende Innovationen bezeichnet, wird mittlerweile so inflationär verwendet, dass er seine Schlagkraft fast eingebüßt hat. Wie auch immer man diese Art radikaler Innovation definiert – sie hat Konsequenzen: „Disruptoren (Innovatoren) krempeln das Konsumverhalten um und bewirken, dass viele Verbraucher revolutionäre Innovationen als neuen Standard ansehen.“ Die Folge ist eine Verlagerung der Kräfte in Richtung der Verbraucher: Diese Entwicklung ist einer der größten Treiber des Wandels hin zum dynamischen „Living Retail“.

Omnichannel ist im Kommen

In der Vergangenheit hatten Verbraucher eine geografisch begrenzte Auswahl an Shopping-Möglichkeiten – für Einzelhändler war das eine komfortable und sichere Position. Der technologische Fortschritt der letzten Jahrzehnte hat dieses Kräfteverhältnis durcheinandergebracht. Mit der zunehmenden Bedeutung von Omnichannel-Shopping wachsen die Optionen der Verbraucher praktisch ins Unbegrenzte.

Onlinekäufe machen noch einen relativ kleinen Anteil des gesamten Einzelhandels aus – auf sie entfielen etwa 10 Prozent der US-Verkäufe im letzten Jahr. Insbesondere vor dem Kauf hochpreisiger Artikel betrachten Verbraucher die Ware lieber ausgiebig und lassen sich von Fachpersonal beraten. Selbst bei niedrigpreisigen Produkten schätzen viele Konsumenten das stationäre Einkaufserlebnis: Den Bummel durch die Filialgänge und das Gefühl der Unmittelbarkeit, mit dem Erworbenen in der Hand das Geschäft zu verlassen.

Nichtsdestotrotz wird Omnichannel zunehmend unter dem Aspekt des Komforts betrachtet und als Zeichen für Servicequalität aufgefasst. Im Lebensmitteleinzelhandel wollen Kunden, wenn sie Zeit haben, durch die Gänge streifen und Obst und Gemüse begutachten – gleichzeitig erwarten sie an stressigen Tagen Lieferungen innerhalb von zwei Stunden oder Click-und-Collect-Optionen.

Verbraucher werden immer mehr zu Omnichannel-Einkäufern – darauf müssen Einzelhändler sich einstellen. Besonders Amazon und Alibaba sind in diesem Bereich Pioniere. Sie beweisen, wie erfolgreich Unternehmen sein können, wenn sie sich neue Handelskonzepte bereitwillig zu eigen machen: In diesem Fall erforderte es ein Umdenken, den Einzelhandel vornehmlich als digitales Ökosystem zu begreifen. Beide Unternehmen hatten keine Angst davor, mit einer Technologie zu experimentieren, die Käufer und Verkäufer online näher zusammenbringt.

Leider erfordert ein nahtloses Einkaufserlebnis viel Arbeit: unter anderem verbesserte Prognosegenauigkeit, Datentransparenz, integrierte und betriebsbereichsübergreifende Planungsprozesse, hochentwickelte Analysemöglichkeiten sowie das Investieren in Technologien, die all dies ermöglichen.

Ich will, was ich will und zwar sofort

Einige der größten Akteure im Einzelhandel – unter anderem auch Amazon und Alibaba – haben sehr viel in ihre Supply-Chain- und Fulfillment-Infrastruktur investiert. Dadurch können sie Lieferungen innerhalb von zwei Tagen, einem Tag oder sogar am gleichen Tag anbieten – kostenlose Rückgabe und transparente Lieferungsverfolgung inklusive. Diese Leistungen sind mittlerweile so verbreitet, dass ihr Fehlen sich in manchen Branchen bereits negativ auswirkt.

Noch nie lastete ein solcher Druck auf der Effizienz, der Exaktheit und der Datentransparenz von Supply-Chains. Diese Entwicklungen sind aus Verbraucherperspektive fantastisch – für die meisten Einzelhändler aber schlicht nicht finanzierbar, ohne dass sie ihr Betriebsmodell überdenken. Hier ist der beste Ansatzpunkt, sich eine agile Supply-Chain-Struktur zur Priorität zu machen: Diese muss in der Lage sein, der Erwartung des Verbrauchers nach einer praktisch im Handumdrehen stattfindenden Erfüllung seiner Wünsche zu entsprechen.

Der Einfluss von Technologie: Sie haben es in der Hand

Laut einer aktuellen Studie lesen durchschnittlich 45 Prozent der Verbraucher über alle Einzelhandelsbranchen hinweg Online-Bewertungen, bevor sie eine Kaufentscheidung treffen. Neu ist dieser Trend nicht – schon 2011 fand eine Untersuchung heraus, dass sich Konsumenten weniger von der Markenbekanntheit als von Onlinerecherchen leiten lassen. Sie sehen sich nicht mehr nur auf wenige Marken beschränkt, denen sie vertrauen.

Da der gesamte Informationsgehalt des Internets über das Smartphone abrufbar ist, überrascht es nicht, dass Verbraucher sich auch unterwegs informieren. Eine Studie fand heraus, dass fast die Hälfte aller Konsumenten, die ihr Smartphone zur Onlinerecherche nutzen, dies auch in der Filiale tun: Sie vergleichen Preise und Produktmerkmale, um herauszufinden, wo sie ihr Geld ausgeben wollen. Ist das bessere Angebot oder Produkt in einem anderen Geschäft erhältlich, gehen sie dort hin. Und wenn sie es im Netz finden, bestellen sie es direkt, noch während sie in Ihrer Filiale stehen.

Aufgrund der enormen Menge verfügbarer Informationen braucht der Konsument von heute sich nicht länger mit dem abfinden, was er vor die Nase gesetzt bekommt.

Werden Händler die Kontrolle jemals zurückerhalten?

Auf jeden Fall – aber nicht in der Form, in der sie es gewohnt waren. Im „Living Retail“-Zeitalter zeigt sich: Der erste Schritt zum Wiedererlangen der Kontrolle ist, sich von der alten Vorstellung von „Kontrolle“ zu verabschieden. Denn in den kommenden Jahren wird sich viel verändern: Technologien, die Bevölkerungsstruktur, die Prioritäten von Verbrauchern wie Einzelhändlern. Dagegen können Händler nicht viel ausrichten.

Worüber Händler aber die Kontrolle haben, ist ihre Anpassungsfähigkeit. Aus heutiger Sicht ist eine der größten Herausforderungen im sich dynamisch entwickelnden Handel das Vorhandensein von unzeitgemäßen Altsystemen: Sie hindern Händler daran, ihre Betriebsprozesse auf den neuesten Stand zu bringen. Wir bei RELEX empfehlen, einen Anbieter auszuwählen, dessen Technologie Ihnen die Kontrolle über Ihre Prozesse gibt, Ihr Unternehmen also anpassungsfähiger macht: Diesen Ansatz nennen wir „Konfigurieren statt Programmieren“.

Einzelhändler, die auf eine Technologie setzen, die es ihnen erlaubt, zu experimentieren und Innovationen schnell umzusetzen, sind am besten aufgestellt, um sich auf veränderliche Geschäftsbedingungen einzustellen. Letzten Endes sind sie diejenigen, die auch in Zeiten des rasanten Wandels wettbewerbsfähig bleiben werden.

Lesen Sie im dritten Beitrag unserer „Living Retail“-Serie, welche Konsequenzen die zunehmende Verstädterung für Einzelhändler mit sich bringt.

Beitrag von

Mikko Kärkkäinen

Co-founder & Group Chief Executive Officer